Von Marc Bergmann, M.A. (Lehrbeauftragter am soziologischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Unternehmensberater)
Glaubt man den zahlreichen Meldungen zum Thema ‚Kirchenkrise‘, so müßte es sehr bald keine Gemeindemitglieder mehr geben – auch in Hochdahl. Noch vor wenigen Wochen schrieb der Spiegel passend zur Weihnachtszeit: „In Berlin und seinem Umfeld spiegelt sich besonders kraß eine Entwicklung wieder, die sich auch in anderen Teilen der Republik immer mehr beschleunigt – der Niedergang der Kirchen […] Überall in Deutschland laufen den Großkirchen die Leute weg: Bekannten sich 1970 in der alten Bundesrepublik noch 28,3 Millionen zur evangelischen und 27,2 Millionen Gläubige zur katholischen Konfession, sank die Zahl bis zum Wendejahr 1989 auf 25,1 Millionen Protestanten und 26,7 Millionen Katholiken.“ (Der Spiegel Nr.52, 22.12.97). Tatsächlich treten immer mehr Menschen aus der Kirche aus. Über die Gründe besteht allerdings keine Einigkeit: Die Einen machen den Dogmatismus und die entsprechende ‚Weltfremdheit‘ als Übel aus, die Anderen sprechen von den zunehmenden Abgabenlasten, derer man sich durch einen Kirchenaustritt teilweise entledigen kann. Ein Stück Wahrheit ist an beiden Positionen auszumachen, doch kann man allerdings auch einen ganz anderen Trend in unserer Gesellschaft beobachten: In Folge der zunehmenden Individualisierung steht der Einzelne immer mehr unter Druck, Fragen des Lebens und Probleme des Alltags alleine zu bewältigen. Die gesellschaftliche Solidarität, die Großfamilie oder andere institutionelle Gruppen existieren quasi nicht mehr.
Die Folge ist, daß sich viele Menschen Sekten und Psychogruppen anschließen (800000 Bundesbürger, Tendenz steigend; Spiegel, ebenda), um ihre psychologischen Bedürfnisse zu befriedigen. Fassen wir zusammen: Die Kirche steckt in der Krise und der Bedarf an (Lebens-)Sinn, Glauben und Alltagsbewältigung steigt. Sicherlich mehr als Grund genug nachzuforschen, wie es mit Ihrer Meinung als evangelisches Mitglied in Hochdahl bestellt ist: Meinen Sie, daß die Hochdahler Gemeinde in der Krise steckt?
Im September (1997) letzten Jahres ist die Evangelische Kirchengemeinde Hochdahl (EKH)dieser zentralen Frage nachgegangen. Die EKH hatte Ihnen als Gemeindemitglied einen zweiseitigen Bogen zukommen lassen, mit Hilfe dessen sie Ihre Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit unserer Gemeinde und den Angeboten, als auch Ihren Glauben an Gott und unsere Kirche befragt hat. Ungewöhnlich viele – 15 Prozent – schickten den beantworteten Fragebogen zurück. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit und Mühe. Die Zusammensetzung der Befragten nach Alterskategorien verhält sich sehr ähnlich zur Struktur der evangelischen Kirchengemeinde in Hochdahl. Dieser Aspekt, aber auch noch andere statistischen Gründe, sprechen sehr wohl für die Tatsache, daß die vorliegenden Daten und Ergebnisse als repräsentativ gelten dürfen. In diesem Zusammenhang, aber auch grundsätzlich sei darauf verwiesen, daß aus verständlichen Gründen auf die Darstellung von statistischen Methoden und umfassenden Analysen hier aus platztechnischen, aber auch aus Gründen der allgemeinen Verständlichkeit verzichtet wird. Was hier zählt, sind die Ergebnisse und weniger eine Fachsimpelei unter Statistikern.
Zurück zum Alter – was grundsätzlich auffällt, ist die ungleiche Verteilung bestimmter Altersklassen, was sicherlich auch dem gesamtgesellschaftlichen Trend entspricht: Immer mehr Leute erreichen ein höheres Alter und immer weniger Menschen werden geboren. Der Anteil der 14-20jährigen in unserer Gemeinde und der Befragung ist mit neun Prozent auffällig klein in Vergleich zu anderen Städten und Gemeinden. Umgekehrt sind die über 40jährigen mit insgesamt 62 Prozentpunkten in der Mehrheit. Schon in einer Vielzahl anderer Untersuchungen ist die Altersvariable als wichtige Bezugsgröße für Einstellungen und Werteorientierungen identifiziert worden. Auch hier ist das Alter für die Einstellung zur Kirche und der Gottesgläubigkeit recht entscheidend.
Es wird sehr deutlich, daß die Einstellungen jüngerer Befragten zur evangelischen Kirche und der Gottesgläubigkeit negativ ausfällt. Obwohl jüngere Menschen zur Ablehnung von Institutionen allgemein tendieren, ist hier trotzdem ein enormer Handlungsbedarf auszumachen. Darüber kann auch nicht die Tatsache hinweg täuschen, daß Kirchenangebote wie ‚Kinder- und Jugendgruppen‘ und „Urlaubsreisen/Freizeiten für Kinder, Jugendliche, Familien und Senioren‘ einen positiven Zusammenhang aufweisen (Alterskategorie: 14-20 Jahre). Denn auf der anderen Seite läßt sich ein durchweg negatives Verhältnis zu anderen Kirchenangeboten wie ‚Gottesdienst‘, ‚Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung‘ etc. ausmachen.
Auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß jüngere Gemeindemitglieder zu aktiven Angeboten sich hingezogen fühlen, wo Kommunikation und Gemeinschaft im Vordergrund, aber weniger christliche Botschaften stehen.
Das ist mit zunehmenden Alter anders: Hier dominieren die eher ‚ideologisch gefärbten‘ Angebote (Gottesdienst, Kirchenmusik, Glaubenshilfe, Raum für Gebet), die eher ‚passiver Konsurnnatur‘ sind. Letzteres wird noch durch die Tatsache untermauert, daß die Unterstützung der evangelischen Kirchengemeinde eher durch Spenden stattfindet, als in der aktiven Übernahme von zeitlich begrenzten Aufgaben wie Besuche, Hilfe für Gemeindemitglieder etc. Es ist durchaus davon auszugehen, daß die Einstellung der Jüngeren sich mit steigenden Alter verändert, d.h. dem entspricht; was wir heutzutage für die Älteren positiv für unsere evangelische Kirche und den Gottesglauben feststellen können. Auf der anderen Seite spricht dagegen, daß sich der Negativtrend der Kirchenaustritte weiter ausweiten könnte und ‚Sekten und esoterische Glaubensgemeinschaften noch stärker beflügeln könnten. Eine klare Prognose ist zu diesem Zeitpunkt sicherlich nicht möglich. Festzustehen scheint aber sicherlich, daß man diesem Trend durch bedürfnisgerechte Gemeindearbeit in Hochdahl entgegen wirken kann. Fassen wir die Ergebnisse zusammen: Mit zunehmenden Alter verändert sich das Verhältnis zu Gottesglauben und Kirchenverbundenheit vom negativen zum positiven. Standen in jungen Jahren die ’nichtideologischen‘, ‚aktiven‘ Kirchenangebote im Blickpunkt des Interesses, so sind es im Alter eher wesentlich ‚christliche‘ und ‚passive‘.
Gehen wir noch einen Schritt weiter und schauen wir uns die Glaubensprofile an, d.h. welche Formen des Glaubens- und des Nichtglaubens (Atheismus) in Hochdahl existieren. Mit Hilfe ausgewählter Variablen, die das Verhältnis zu Gottesglauben und evangelischer Kirche messen, ist eine sinnvolle Zusammenfassung zu den Typen ‚Glaubende mit Kirchenbindung‘ und ‚Kirchenfremde mit eigenen Glauben‘ möglich. An erster Stelle stehen jeweils Variablen oder Aussagen, die statistisch am aussagekräftigsten sind -am Ende nicht so bedeutende. Die Aussage ‚Ich fühle mich als Christ‘ führt zu der Benennung ‚Glaubende mit Kirchenbindung‘ und umgekehrt ‚Ich glaube weder an Gott noch an eine höhere Kraft‘ zum Typ ‚Kirchenfremde mit eigenen Glauben‘.
Was uns nun natürlich interessiert, sind folgende Fragen:
1.) Wie viele Mitglieder der evangelischen Kirche Hochdahls sind dem Typ ‚Glaubende
mit Kirchenbindung‘ zuzuordnen und wie viele dem Typ „Kirchenfremde mit eigenen Glauben“?
2.) Welche Einstellungen und soziodemographischen (z.B. Alter, Geschlecht etc.) Merkmale stehen in Verbindung mit diesen Typen?
Wenden wir uns zunächst der Beantwortung der ersten Frage zu. Auf dem Diagramm 2 kann man ablesen, daß die größte Gruppe mit 41 Prozent ‚Glaubende mit Kirchenbindung’ist. Nur 27 Prozent der Gemeindemitglieder sind als kirchenfremd zu bezeichnen. Je nach Betrachtungsweise kann man folgendes feststellen: Die größte Gruppe der evangelischen Kirchengemeinde Hochdahls ist christlich und damit ist die Verbundenheit zu Gottesglaube,und Institution hergestellt. Auf der anderen Seite stimmt bedenklich, daß zirka ein Viertel (27 Prozent) unserer Gemeinde als atheistisch bezeichnet werden kann. Von dieser Gruppe geht die höchste Gefahr aus, daß sie austreten werden. ‚Suchende mit Kirchendistanz‘ ist eine Gruppe, die sowohl christlich, als auch atheistisch ist. Was heißt das? Diese Gruppe fühlt sich nicht so stark mit dem Gottesglauben und unserer Kirche verbunden wie die Gruppe des Typs ‚Glaubende mit Kirchenbindung‘, definiert sich von ihrem Selbstverständnis aber auch weniger stark mit der Gruppe ‚Kirchenfremde mit eigenen Glauben‘. Gerade die letztere Gruppe wird in Zusammenhang mit der Klärung der zweiten Frage, der Verbindung mit Einstellungsmustem und soziodemografischen Merkmalen, noch weiter erhellt und zugänglich gemacht.
Schaut man sich die Zusammenhänge zwischen den Gruppentypen und den soziodemografischen Merkmalen an
Schaut man sich die Zusammenhänge zwischen den Gruppentypen und den soziodemografischen Merkmalen an, so sind folgende Befunde ablesbar:
…Die Gruppe des Typs „Glaubende mit Kirchenbindung“ zeigt einen bemerkenswerten Zusammenhang mit der Altersgruppe ’65 und älter‘, aber auch mit der Gruppe ’21-40′ auf. Gerade letztere Alterskategorie kann man durch den Status ‚Zusammenlebend‘ und ‚Kinder‘ charakterisieren. Hier läßt sich stark vermuten, daß durch ‚Heirat, Taufe und KonflrInation‘ ein positives Verhältnis und eine hohe Verbundenheit zur evangelischen Kirche hergestellt werden kann.
…Bei der Gruppe des Typs ‚Kirchenfremde mit eigenen Glauben‘ ist das natürlich gänzlich anders. Hier finden wir vor allen Dingen die jungen Menschen, d.h. die bis 20jährigen wieder. Die Altersgruppe ’21-40Jahre‘ spaltet sich offenbar in zwei Teile: Auch beim Typ ‚Kirchenfremde mit eigenen Glauben‘ ist ein hoher Zusammenhang nachweisbar. Was sich aber als wesentlicher Unterschied feststellen läßt, ist die fehlende Affinität zu den Merkmalen ‚Zusammenlebend‘ und ‚Kinder‘: Ein weiterer Wesensunterschied ist, daß das Geschlecht eine Rolle zu spielen scheint: Männer sind eher in die Gruppe ‚Kirchenfremde mit eigenen Glauben‘ einzuordnen als Frauen. Umgekehrt verhält es sich bei den Frauen: Frauen sind eher gläubig.
…Dieser Zusammenhang ist nämlich bei der Gruppe des Typs ‚Suchende mit Kirchendistanz‘ nachweisbar (ein Mischtyp): Vor allem Frauen sind hier zuzurechnen. Wie bei der Gruppe ‚Glaubende mit Kirchenbindung‘ ist die Altersstruktur bei Mitgliedern des Typs ‚Suchende mit Kirchendistanz‘ nach oben verschoben. Die Kategorie ’65 und älter‘ ist hier alleine vertreten. Charakteristisch für diesen Typ ist der Zusammenhang mit der Lebensform ‚Single‘.
Weniger spektakulär sind die Ergebnisse bezüglich der Einstellungen zu werten:
…Mitglieder des Typs ‚Glaubende mit Kirchenbindung‘ haben ein durchweg posities Verhältnis zur Gemeindearbeit und der evangelischen Kirche als Institution. Sie sind darüber hinaus gerne bereit, die Kirche in Form von Sachspenden zu unterstützen.
…Mitglieder des Typs ‚Kirchenfremde mit eigenen Glauben‘ haben ein durchweg negaties Verhältnis zur Gemeindearbeit und der evangelischen Kirche als Institution. Sie sind weder an Kirchenangeboten interessiert -geschweige dazu bereit, die Gemeindearbeit zu unterstützen.
…Mitglieder des Typs ‚Suchende mit Kirchendistanz‘ haben ein positives Verhältnis
zur Gemeindearbeit und der evangelischen Kirche als Institution. Im Gegensatz zu den Mitgliedern des Typs ‚Glaubende mit Kirchenbindung‘ sind diese eher als passive Mitglieder einzustufen.
Kommen wir abschließend zurück zu unserer Ausgangsfrage: ‚Meinen Sie, daß die Evangelische Kirchengemeinde Hochdahl in der Krise steckt?‘ Wenn man sich die Ergebnisse in bezug auf die relativ große Gruppe der ‚Kirchenfremde mit eigenen Glauben‘ anschaut und gleichzeitig registriert, daß der ‚Kirchennachwuchs‘ an der Vermittlung des Evangeliums und der Kirche als Institution weniger interessiert ist, dann hat dieser Aspekt sicherlich etwas krisenhaftes an sich. Aus meiner Sicht kommt es zukünftig stark darauf an, die Gemeindearbeit für die Altersgruppe ’14-20 Jahte‘ noch bedürfnis- und zeitgemäßer zu gestalten, damit auch eine Identifikation mit evangelischem Glauben und unserer Gemeinde hergestellt werden kann, die über die kommunikativen Elemente des ‚Beisammenseins‘ hinausgehen. Darin liegt nicht nur die Krise, sondern auch die große Chance: die evangelische Kirchengemeinde zu verjüngen und an den Puls der Bedürfnisse zu bringen. Das könnte auch die Gruppe des Typs ‚Kirchenfremde mit eigenen Glauben‘ schrumpfen lassen. Die Evangelische Kirchengemeinde Hochdahl hat einen überwiegenden Anteil christlicher Mitglieder, die ein positives Verhältnis zu Gemeindearbeit und dem Evangelium besitzen. Die evangelische Kirchengemeinde Hochdahl steckt aber auch in der Krise – und darin liegt die Zukunftschance!