Seit ich das Buch von Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg“ gelesen hatte, hatte sich der Gedanke in meinem Kopf festgesetzt: Den Jakobsweg in Spanien möchte ich auch einmal laufen! Mit Beginn der Sommerferien 2012 hatte ich das Ende meiner 40jährigen Zeit als Lehrerin erreicht. Der Gedanke nicht mehr so viel Stress, Kinderlärm und Anstrengung ausgesetzt zu sein wirkte wohltuend und befreiend, doch würde ich nicht auch mein lebendiges, quirliges Leben mit den munteren Kindern und den Austausch mit meinen Kollegen/-innen vermissen? Was würde danach kommen? Wie könnte ich den Freiraum in meiner neuen Lebensphase füllen? Das war endlich die Gelegenheit meinen lange gehegten Traum „Jakobsweg“ anzugehen. Mein Mann hatte mir schon früher erklärt, dass er mit seiner lädierten Bandscheibe nicht mit schwerem Rucksack laufen will und kann. Also allein. Beim Laufen habe ich viel Zeit mein zurückliegendes quirliges Lehrerinnenleben innerlich abzuschließen und mich auf das Kommende gedanklich einzustellen, so meine Überlegung. Auch kann ich als ungeübte Läuferin in einem mir angemessenen langsameren Tempo unterwegs sein, mit kleineren Etappen, den nötigen Pausen, mit mehr Zeit eben. Außerdem hatte ich schon oft bei Spaziergängen erfahren, dass ich wenn ich allein unterwegs war, ruhig und wohltuend meinen Gedanken nachhängen, ausdauernder beten und Belastendes leichter abschütteln konnte und mich danach ausgeglichener und gestärkter fühlte. Das alles bestärkte mich, den Weg allein zu versuchen.
Die ersten Ferienwochen waren angefüllt mit Internet-Recherche über den Camino Frances, so heißt der Haupt- Jakobsweg in Spanien, den auch Hape Kerkeling gepilgert ist. Hape hatte sich sechs Wochen Zeit genommen. Ich würde in meinem Alter und ungeübt wie ich war sicher länger brauchen. Ich buchte preiswerte Flüge im Abstand von zwei Monaten: Hin nach Biarritz in Südfrankreich am 19. August 2012, zurück von Santiago de Compostela am 18.Oktober. Nun waren die Eckdaten gesetzt. Ich kaufte Rucksack, schnell trocknende leichte Funktionskleidung und vervollständigte die Ausrüstung. Ich besorgte mir einen guten Pilger- Reiseführer und bestellte einen Pilgerpass. Ich wog alles was ich einpacken wollte und lief ein paarmal zur Probe mit meinem gepackten Rucksack. Mein Rucksack war schwer, wog beinahe 12 kg ohne Wasser und Proviant.
In Pamplona, der ersten spanischen Stadt (von hier aus gesehen) nach den Pyrenäen, wollte ich meinen Pilgerweg beginnen. Als ich nach 18 Uhr aus dem gut klimatisierten Zug ausstieg, kam es mir vor, als stiege ich in einen geheizten Backofen: 40 Grad zeigte ein elektronisches Thermometer am Bahnhof an! Schwitzend fragte ich mich zu meiner ersten Pilgerherberge in der Altstadt durch. Die Atmosphäre in der näheren Umgebung begeisterte mich: Überall standen Spanier in Gruppen lachend und palavernd in den engen Gassen. Auf einem Platz schwirrte die Luft vom Stimmengewirr und Gelächter. Ich fand es viel zu schade, am nächsten Tag diese besondere Stadt zu verlassen ohne etwas mehr davon gesehen zu haben. Ich schaute in meinen Pilgerführer und fand heraus, dass die nächste Pilgerherberge nur 5 km von Pamplona entfernt war. Fünf Kilometer sollte ich doch leicht schaffen! Daraufhin entschloss ich mich mir am nächsten Vormittag die Stadt anzusehen und erst mittags meine erste Pilgeretappe zu beginnen.
Pamplona ist groß und es dauerte nach meiner Stadtbesichtigung länger als erwartet, bis ich zu Fuß den Stadtrand erreicht hatte. Ab hier stieg das Gelände an und ich lief beständig bergauf. Die Sonne knallte sengend auf mich herab und die Steine reflektierten die Hitze. Auf dem schattenlosen Weg fühlte ich mich bald wie ausgedörrt. Mein Rucksack schien immer schwerer zu werden. Außer ein paar Autos auf der Straße war niemand unterwegs zu sehen. Alle paar hundert Meter drückte ich mich an einige Büsche abseits des Weges, um im Schatten zu verschnaufen und aus meiner Wasserflasche zu trinken. Bewundernd sah ich, wie eine junge Pilgerin mit einer Wasserflasche in der Hand trotz der Hitze mit gleichmäßigem zügigem Schritt bergauf ging. Mir kamen Zweifel an meinem Vorhaben. Hatte ich den Mund zu voll genommen, als ich verkündete nach Santiago di Compostela pilgern zu wollen? Wie sollte ich eine Strecke von mehr als 700 km pilgern, wenn ich bereits auf der ersten Etappe von nur 5 km schlapp machte? Erst gegen 16 Uhr erreichte ich endlich total erhitzt und verschwitzt bei 40 Grad Lufttemperatur die Pilgerherberge in Cizur Menor, meinem Ziel für diesen Tag. Verständnisvoll stempelte die Herbergsmutter die Pässe der wenigen ebenfalls verschwitzt ankommenden Pilger und wies uns auf ein Schwimmbad in der Nähe hin. Wie wunderbar fand ich es in dem kühlen Wasser meine Bahnen zu ziehen! Das versöhnte mich mit dem anstrengenden Nachmittag. Nun war mir klar, warum die meisten Pilger am frühen Morgen noch bei Dunkelheit aufbrechen.
Danach stellte ich meinen Wecker auf sechs Uhr, um früh in der Frische des Morgens zu loszulaufen. Wenn möglich holte ich mir einen Kaffee aus einem Automaten in der Herberge oder in einer Bar in der Nähe. Oft waren aber die Bars noch geschlossen, so dass ich erst nach einigen Kilometern Weg in einer Ortschaft meinen ersten wichtigen Morgenkaffee trinken konnte. Die eingepackten weichen, süßen, oft klebrigen spanischen Frühstücksstückchen sagten mir wenig zu, so dass ich mir meist im Supermarkt Joghurt, Apfel, Brot und Käse besorgte. Mit Freude und zügigen Schritten lief ich noch in der Dunkelheit mit meiner Stirnlampe los. Es war wunderbar im Licht der aufgehenden Sonne zu laufen, ich genoss die in rascher Folge wechselnden unterschiedlichen Färbungen des Himmels und der Wolken. Der Camino, so wird der Jakobsweg allgemein genannt, bot in Navarra viele weite Ausblicke auf eine farblich abwechslungsreiche und wunderschön geformte hügelige Landschaft mit Feldern. Ich hatte nicht erwartet, dass der Weg so schön und gebirgig sein würde, meist führte er mich bergauf und bergab. Andere Pilger überholten mich und zogen mit großen schnellen Schritten an mir vorbei. Ich übte mit möglichst gleichmäßigem Schritt so bergauf zu gehen, das ich nicht so oft pausieren musste, um zu verschnaufen. Nach den ersten Tagen nahm allmählich meine Kondition zu. Wegen der Hitze wurde es mit zunehmender Tageszeit trotz Pausen anstrengend zu laufen. Ich freute mich, wenn ich die vorgesehene Pilgerherberge am Nachmittag nicht so spät erreichte.
In den letzten Jahren sind zahlreiche neue Herbergen entlang des Camino gebaut worden.Von den Pilgerherbergen war ich angenehm überrascht. Um dort zu übernachten musste der Pilgerpass vorgelegt und gestempelt werden. Meist gab es saubere Waschräume mit gepflegten warmen Duschen und Toiletten. Auch die Gemeinschaftsschlafräume fand ich akzeptabel, wenn auch manchmal etwas eng. In der Regel schliefen Männer und Frauen in gleichen Raum in Doppelstockbetten. In einigen Herbergen gab es eine Küche, in der man selbst kochen konnte, in anderen bot die Hospitalera (Herbergsmutter, Wirtin) am Abend ein selbst gekochtes Pilgermenue an. Meist konnte man in einem Restaurant im Ort ein dreiteiliges Pilgermenue (10 € mit Wein) essen. Ich war überrascht, wie gut ich in den Pilgerherbergen schlafen konnte, trotz gelegentlicher Schnarchgeräusche meiner Mitpilger. Offenbar war ich vom ungewohnten Laufen auf angenehme und wohlige Weise müde.
An meinem 3. Pilgertag überquerte ich am Nachmittag müde vom Laufen die berühmte alte Brücke von Puente la Reina. Die hoch oben auf einem Berg gelegene neu erbaute Pilgerherberge hatte ich ausgesucht, weil es dort ein Schwimmbad gab. Der Gedanke mich so erhitzt wie ich war bald in einem Schwimmbecken abkühlen zu können, mobilisierte noch einmal meine Kraft für den 450 m langen sehr steilen Anstieg. Dort genoß ich abends bei gutem Essen und Wein die intensiven, mich berührenden Gespräche mit anderen Pilgern. Der 68 jährige Hein aus den Niederlanden und die 46 jährige Beatrix aus der Schweiz waren bereits von zu Hause aus hunderte Kilometer gelaufen, was mich schwer beeindruckte. Ein lustiger Ire, aus den Gesprächen erfuhr ich das er Mönch und Priester war, ein Brasilianer, ein Franzose und zwei Berliner sprachen unter anderem über ihre unterschiedlichen Beweggründe, den Camino zu gehen, über Glauben, Versorgung von Blasen, Reiseerlebnisse usw. Das Gespräch wechselte zwischen englisch und deutsch, auch französich und spanisch. Die Gespräche erreichten eine Tiefe und Offenheit, als wären wir schon lange miteinander vertraut, es wurde aber auch viel gelacht. Ich fühlte mich erfüllt und beschenkt. Gleichzeitig war ich neugierig, auf weitere Begegnungen und Eindrücke auf meinem Weg.
Nach wenigen Tagen kam ich mit einer zierlichen grauhaarigen Amerikanerin ins Gespräch, die mir wegen ihres riesigen Rucksacks auffiel. In ein angeregtes Gespräch vertieft liefen wir gemeinsam weiter. Überrascht stellten wir fest, dass uns die zurückgelegte Strecke in der großen Hitze weniger anstrengend vorgekommen war.
Wir pilgerten in den nächsten sechs Tagen gemeinsam weiter, übernachteten zusammen in den Herbergen und wurden durch die stundenlangen Gespräche sehr vertraut miteinander. Meine neue Pilgerfreundin hatte weniger Zeit für den Camino als ich und musste daher zügiger vorankommen. Am Nachmittag unseres sechsten gemeinsamen Tages verabschiedeten wir uns mit Tränen in den Augen, nicht ohne unsere Emailadressen ausgetauscht zu haben.
Die Begegnung mit Pilgern aus den unterschiedlichsten Ländern und beinahe jeden Alters fand ich sehr spannend. Man kam schnell ins Gespräch, sobald man eine gemeinsame Sprache gefunden hatte. Es wurde viel gelacht. Da alle denselben Weg gingen, nur in unterschiedlichem Tempo, traf man sich häufig wieder. Allmählich gewöhnte sich mein Körper an das Pilgern und es bildeten sich neue Abläufe und Gewohnheiten. Meine Tagesetappen wurden länger, meist lief ich – abhängig von der Entfernung der Herbergen und des Geländes- zwischen 15 und 22 km. Ich hatte erfahren, dass einige Unternehmen für ein paar Euro den Rucksack am frühen Morgen in der Herberge abholen und mit einem Auto in die vorgesehene neue Herberge transportieren. Mit meinem leichten Falt-Tagesrucksack, der die benötigten Dinge für den Tag und meine Wertsachen enthielt, fühlte ich mich unbeschwerter und beweglicher.
Beflügelt und mit zügigen Schritten lief ich am frühen Morgen los, oft bei Dunkelheit, in das Licht der aufgehenden Sonne hinein. Ich genoss den Blick zum Himmel mit seinen Wolkenformationen und dem unterschiedlichen Licht. Ich fühlte den Boden unter meinen Füßen, nahm die Formen der Berge und die Weite der Landschaft in mir auf. Gedanken kamen, berührten mich und flogen davon. Ich fühlte mich auch innerlich geweitet. Ich fühlte mich beschenkt und priviliegiert mir eine solche Auszeit nehmen zu können. Ich war von Demut und tiefer Dankbarkeit erfüllt. Ich fühlte mich eingebunden in die Natur und verbunden mit etwas Größerem. Beim Laufen betete ich viel, Lieder kamen mir in den Sinn und ich sang. Obwohl ich die meisten Strecken allein lief, fühlte ich mich nie einsam. Ich pausierte in Dörfern und kleinen Städtchen entlang des Camino und stärkte mich mit einem Cafe. Meist kam ich dort mit anderen Pilgern ins Gespräch. Ich war in mir ruhend, ausgeglichen, ganz im Hier und Jetzt. Wie soll ich einen solchen Zustand noch beschreiben? Ich denke, das beschreibt es am kürzesten: Ich fühlte mich über weite Strecken beschwingt und glücklich. Ich befand mich oft in einem begnadeten Zustand, den man nicht bewusst herbeiführen kann, sondern geschenkt bekommt.
Wenn ich heute an den Jakobsweg zurück denke, überwiegen diese schönen, besonderen Eindrücke, sie haben sich tief in meinem Empfinden eingeprägt. Natürlich gab es auch mühsame, anstrengende Tage. Oft taten mir abends die Füße weh. An wenigen Tagen fand ich das Laufen bereits morgens anstrengend, ich motivierte mich mit vielen Pausen zum Durchhalten. Meine Füße schwollen in der Hitze an und meine Schuhe drückten immer mehr. Wie viele andere Pilger bekam ich Blasen an den Füßen, die ich mit Blasenpflaster beklebte. Als ich nach zwei Wochen die größere Stadt Burgos erreichte, pausierte ich dort einen Tag und kaufte ich mir ein paar neue größere Wanderschuhe. Danach bekam ich keine Blasen mehr.
Nach etwa drei bis vier Wochen fing eine Sehne an meinem linken Schienbein an zu schmerzen. Ein Arzt diagnostizierte eine Sehnenentzündung und verordnete mir Schmerzmittel und mindestens drei Tage Pause. Günstigerweise befand ich mich gerade in Leon. Die große belebte schöne Stadt mit seinen vielen Sehenswürdigkeiten war ein guter Ort zum Verweilen. Danach konnte ich fast ohne Beschwerden weiter laufen, verlangsamte aber sicherheitshalber das Tempo und verkürzte meine Tagesetappen. Später legte ich noch zwei weitere Ruhetage ein, weil mich Durchfall plagte.
Ende August ebbte die Hitzewelle ab, die meisten Tage im September blieben sommerlich warm und trocken. Im Laufe der Wochen folgte ich dem seit über 1000 Jahren existierenden Pilgerweg durch ich die unterschiedlichen Landschaften Nordspaniens: das gebirgige Navarra und die Weinbauregion Rioja, ich durchwanderte die baumlose Hochebene der Meseta und die Landschaften Kastilliens, bis ich schließlich die regenreiche, grüne nordwestliche Provinz Galicien erreichte. Dabei durchquerte ich mittelalterlich anmutende ursprüngliche Dörfer und zahlreiche alte Städte mit ihren unzähligen schlichten oder prunkvollen Kirchen und Klöstern. Ich erklomm mehrere Pässe und stieg sie wieder hinunter. Nahe dem Rabanal-Pass befindet sich in 1517 Meter Höhe ein Eisenkreuz auf einem hohen Eichenstamm, das Cruz de Ferro. Das ist einer der symbolträchtigen Orte des Jakobsweges. Als ich mich dem Kreuz näherte, fühlte ich mich sehr berührt. Ich folgte der über tausendjährigen Pilgertradition und legte dort einen Stein ab, als symbolisches Zeichen für das Ablegen innerer persöhnlicher Lasten.
Je mehr ich mich der Provinz Galicien näherte, desto kühler und unbeständiger wurde das Wetter. Nun bedauerte ich, dass ich um Gewicht in meinem Rucksack zu sparen meine Fleece-Jacke zu Hause gelassen hatte. Es fing häufiger an zu regnen. Nach einem 10 km langen Anstieg erreichte ich in 1300 m Höhe das hübsche Dorf O`Cebrero mit seinen runden Steinhäusern mit Strohdach, die auf eine 2500 Jahre alte keltische Bautradition zurückgehen. Glücklich, als hätte ich das Dach der Welt erklommen, konnte ich mich kaum an der Rundumsicht über die grüne malerische Landschaft bis zum Horizont satt sehen.
Ich bin öfters gefragt worden, wie es war in Santiago de Compostela anzukommen, der nach Rom und Jerusalem wohl der drittbekannteste christliche Wallfahrtsort ist. An den Tagen vorher war ich ein wenig wehmütig, denn ich wusste ja, dass der Pilgerweg dort endet. Am letzten Tag hatte ich noch eine Strecke von 21 km zu laufen. Es regnete in Strömen, heftig, stundenlang und ununterbrochen. Vorher hatte ich mich an regnerischen Tagen unter meinem Regencape gut geschützt und geborgen gefühlt. An diesem Tag kroch jedoch nach Stunden die Feuchtigkeit in mich hinein. Meine Schuhe waren durchnässt, ich fröstelte. Ich lief mit zwei munteren Amerikanerinnen zusammen und wir redeten, sangen und lachten viel, trotzdem war ich heilfroh, als ich eine Herberge erreichte und ich mich heiß duschen konnte. Am nächsten Tag legte ich im Pilgerbüro meinen Pilgerpass mit den vielen Stempeln vor, bekam die Compostela (Pilgerurkunde) und ging mittags zur Pilgermesse in die überfüllte Kathedrale. Zu Beginn jeder Messe wird verlesen, wie viele Pilger welcher Nationalität Santiago erreicht haben und von aus welchem Ort sie gepilgert sind. Irgendwann während der Messe schossen mir Tränen in die Augen, ich fühlte mich in meinem Innersten berührt. Während der Messe wurde Spanisch gesprochen, der Pilgersegen wurde in fast allen Sprachen der anwesenden Pilger erteilt. Zum Schluss wurde der 54 kg schwere silberne Weihrauchkessel (Botafumeiro) von acht Mönchen mit Seilen auf spektakuläre Weise so geschwenkt, dass er in einem Bogen von 65 Metern Weglänge beinahe die Decken des Querschiffs berührte und in der Mitte beinahe die Umzäunung des Altarvorraumes.
Bis zu meinem Abflug hatte ich noch acht Tage Zeit. Da das Wetter weiterhin sehr verregnet war, fuhr ich nach einigen Tagen Aufenthalt in Santiago mit dem Bus zum Kap Finisterre, nach Muxia und nach A Coruna, wo ich jeweils übernachtete.
Natürlich kann ich nur einige der Eindrücke und Erlebnisse meiner zwei Monate auf dem Jakobsweg beschreiben, mehr würde den Rahmen dieses Berichtes sprengen. Pilgern ist anders als ein verlängerter Urlaub vom Alltag. Es ist ein Experiment, eine besondere Erfahrung. Sich selbst in einem anderen Land auf einem unbekannten Weg über Wochen erleben zu dürfen, ohne die Sicherheit der heimischen Umgebung und der Rituale des Alltags, habe ich als ein großes Geschenk empfunden.
Ich bin neugierig, aufgeregt und auch ein wenig zweifelnd losgegangen. Bald bin ich ohne Angst gelaufen und habe mich irgendwie geleitet gefühlt. Insgesamt bin ich 725 km auf dem Jakobsweg durch den Norden Spaniens gepilgert. Ich brauchte meine unsichtbaren Schutzwälle nicht, konnte mich öffnen. Immer wieder gab es Situationen in denen ich gestaunt habe, mich in meinem Inneren berührt fühlte. Die Begegnungen mit Pilgern aus nahezu allen Kontinenten und unterschiedlichen Ländern haben mich inspiriert. Trotz gelegentlicher Schwierigkeiten fühlte mich wohl, lebendig, ganz im Hier und Jetzt. In vielen Situationen fühlte mich geweitet und erfüllt vor Glück. Dieser Glückszustand hat auch nach meiner Rückkehr über Wochen angehalten.
Birgit Runkel